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Zum ersten Mal überhaupt wird die Bedeutung von Erotik für eine Gesellschaft befragt: Wie hängen der Zweite Weltkrieg und die angeblich prüden 50er-Jahre zusammen? Wie wichtig war Nacktheit für die Studentenrevolution der 60er? Wie hat AIDS unser Leben beeinflusst? Warum war der Mauerfall auch ein Neuanfang in deutsch-deutschen Betten? Welche Rolle haben Dolly Buster und Rita Süssmuth, Filme wie "Emmanuelle" oder "50 Shades of Grey" für unser Liebesleben gespielt? Wir fragen in sechs Folgen, wie Lust und Politik, Erotik und Gesellschaft in den 50er-, 60er-, 70er-, 80er-, 90er-Jahren und in unserer Gegenwart zusammenhängen. Eine Weltreise durch die Kultur der Begierde mit vielen Prominenten aus Politik, Film und Unterhaltung!
Bisher bist Du vor allem als Kulturjournalist und Wagner-Experte in Erscheinung getreten. Was hat Dich veranlasst, eine Dokumentarserie über dieses Thema zu drehen?
Zum einen gibt es kaum etwas Lustvolleres als die Oper. Aber auch Kunst verändert ja unser Leben — ebenso wie unsere Begierde. Ich fand es spannend, das Thema Sex vollkommen neu zu beleuchten. Also haben wir eine Weltreise unternommen: von Israel bis nach Los Angeles, zum Playboy oder nach Barcelona zu einem Dreh mit der Frauen-Porno-Ikone Erika Lust. Wenn man so will, ist jeder Blick auf den Sex und die Gesellschaft eine kleine erotische Oper! Auf jeden Fall ist Sex eine der größten Kunstformen überhaupt.
Die Serie heißt "Porn Culture". Inwieweit kann man nicht nur von einer Pornoszene, sondern sogar von einer Pornokultur sprechen?
Pornographie ist allgegenwärtig. So wie die sich Zeit wandelt, wandelt sich unsere Lust. Sex ist ein gesellschaftlicher Kitt, und so wie wir begehren, leben wir auch. Kriege, Revolutionen, der Fall der Mauer oder Krankheiten wie AIDS haben unseren Sex verändert. Viele Dinge wie Homosexualität oder Sado-Masochismus führten lange ein Nischendasein in der Subkultur, bevor sie unsere Lebenskultur nachhaltig veränderten. Diesen Bewegungen gehen wir auf die Spur und zeigen, dass Porno schon immer ein Teil unserer Kultur war.
In allen Folgen gibt es eine Gesprächsrunde, die Jennifer Weist moderiert und an der auch Du teilnimmst. Worüber wird diskutiert und wer sind die Gäste?
Auf der einen Seite gehen wir vor Ort und reisen durch die Zeit, besuchen Ikonen der Pornographie, wichtige Politiker, Regisseure oder Künstler. Mit Jennifer und ihren Gästen, unter anderem mit Lady Bitch Ray oder Lilo Wanders, richten wir den Blick aus unserer Zeit auf die Vergangenheit: Wie viel 68er stecken noch in uns? Sind wir heute, da wir Sex immer und überall zur Verfügung haben, nicht doch auch wieder prüder geworden? Wie emanzipiert ist unsere Nation wirklich? Und wie schauen wir heute auf Leute wie Beate Uhse oder Hildegard Knef?
Jede Folge widmet sich einem anderen Jahrzehnt. Welches hat Dich persönlich in Bezug auf den Umgang mit Sexualität am meisten beeindruckt und warum?
Für mich waren die 50er-Jahre und die Gegenwart am spannendsten. Den 50ern wird ja oft Prüderie nachgesagt – aber wie ist es, wenn die Männer aus dem Krieg kommen, gezeichnet von Tod, Vergewaltigung und Ungerechtigkeit? Welchen Einfluss hat all das auf die Schlafzimmer eines Landes? In der Gegenwart ist es das Extrem, das regiert: Menschen auf der Suche nach neuen Grenzen – bis zur Zerstörung des eigenen Körpers. Gleichzeitig die Virtualität. Was mich geschockt hat: Im Durchschnitt sieht ein Kind seinen ersten Hard-Core-Porno mit 12 Jahren. Wir fragen, was das mit der Liebe an sich anstellt.
Der Pornofilmindustrie haftet ein schlechter Ruf an. Insider berichten von Drogen- und Alkoholmissbrauch und Prostitution. Du warst bei Dreharbeiten zu einigen Pornos dabei und hast mit Regisseuren, Darstellerinnen und Darstellern gesprochen. Was ist Dein Eindruck von der Branche?
Dass es "die Branche" nicht gibt. Pornographie ist eines der ältesten Gewerbe, und da gibt es schwarze Schafe, aber auch ambitionierte Neudenker wie Erika Lust. Sie dreht weibliche Pornos und fragt: Warum legen wir beim Essen so viel Wert auf "fair trade" und nicht beim Porno-Konsum? Das sind sehr spannende Ansätze, und ich glaube, dass hier auch die Zukunft der Pornographie liegt.
Du hast fast 100 Protagonisten getroffen, wer hat Dich am meisten überrascht?
Schwer zu sagen: Wir waren bei einem Kameramann zu Hause, der in der DDR Knetfilme für Kinder produziert hat, und als ihm langweilig wurde, hat er begonnen — unter Lebensgefahr — private Knetpornos zu produzieren. Spannend war, wie Rita Süssmuth mit der AIDS-Politik der Männer Helmut Kohl und Peter Gauweiler abgerechnet hat. Großartig die Lebenslust von Hans Berlin einem mit HIV infizierten schwulen Pornostar in New York oder die Treffen mit den Regisseuren Uli Edel ("Letzte Ausfahrt Brooklyn") oder Just Jaeckin ("Die Geschichte der O"). Toll waren aber auch die vielen Künstler, die wir besucht haben: den Comiczeichner Ralf König oder die Warhol-Weggefährtin Maripol.
Pornographische Inhalte sind heute so leicht zugänglich wie wohl noch nie zuvor. Ist das ein Fluch oder Segen oder weder noch?
Wir haben für „Porn Culture“ einen Sex-Therapeuten getroffen. Das körperlose, virtuelle Netz lässt uns glauben, dass jede Form der Sexualität möglich ist. Im Rausch, der dabei entsteht, können schnell Schieflagen zur Wirklichkeit entstehen. Gleichzeitig ist das Netz ein Segen: „Tinder“ oder Dating-Plattformen sind echte Alternativen zum Discobesuch geworden. Spannend auch wie Pornographie in Computerspielen thematisiert wird oder die Anonymität des Netzes für eine ehrlichere Sexualität sorgt.
Du sagst in der Serie, dass Du gegenwärtig eine merkwürdige Prüderie wahrnimmst. Woran genau machst Du das fest?
In einer Welt, in der alles möglich scheint, in der wir virtuell alles gesehen und erlebt haben, kann es plötzlich merkwürdig sein, wenn man dann wieder einem echten Menschen gegenübersteht, Händchen hält oder küsst. Ich glaube, dass der Slogan "anything goes" viele Menschen überfordert. In den USA gibt es eine neue Bewegung, die Sex vor der Ehe ablehnt, und überhaupt ist die Frage, wie wir mit Erotik in einer entgrenzten Welt umgehen, sehr aktuell.
Verschiedenste Formen und Aspekten der menschlichen Sexualität werden in der Serie thematisiert. Was ist für Dich persönlich die wichtigste Erkenntnis?
Die Vielfalt des Sex! Und dass die eigene Irritation nichts mit der eigentlichen sexuellen Praxis zu tun hat. Ich habe ein Cam-Girl besucht, das sich eigentlich nur ausgezogen hat – aber das war mir unangenehm. Gleichzeitig war ich auf einer SM-Farm, auf der die Menschen sich ernsthaft wehgetan haben. Das war aber so wahrhaftig, dass es fast schon Kunst, ja Lebenskunst war. Ich habe gelernt: Sex ist dann am schönsten, wenn ihn alle Beteiligten genießen – egal in welcher Spielart.
Am Ende führst Du selbst Regie für einen Erotikfilm. Was war das für eine Erfahrung?
Eine großartige Erfahrung, bei der mir die wunderbare Porno-Regisseurin Paulita Pappel geholfen hat. Uns ging es darum, faire, ästhetische und dennoch explizite und sinnliche Bilder zu schaffen. Was ich erlebt habe: Ein guter Porno-Dreh ist so anstrengend und erfordert so viel Arbeit, dass die Nacktheit dabei zur natürlichen Nebensache wird. Es war ein gigantisches Experiment, nachdem ich sechs Folgen lang auf den Spuren der Pornographie gewandert war, nun selber einen Porno zu drehen. Ich bin gespannt auf die Reaktionen.
Warum lohnt es sich, die Serie "Porn Culture" anzusehen?
Vielleicht, um zu verstehen, dass Lust beim Menschen mehr ist als ein Trieb: Sie kann eine Haltung sein, gesellschaftlich, politisch und zwischenmenschlich. Aber ganz im Ernst: Nach sechs Stunden und sechs Jahrzehnten Pornographie könnte man sich auch animiert fühlen, das eine oder andere Neue auszuprobieren.
Interview: Dirk Buhrmann